Marburger Bausystem

Das Marburger Bausystem gilt als erstes Fertigteilkonstruktionskonzept im deutschen Universitätsgebäude. Für die naturwissenschaftlichen Institute der Philipps-Universität Marburg an der Lahn wurden 1961-63 / 65 gerasterte Betonelemente entwickelt. Bis in die 1970er Jahre beeinflusste das Marburger System spätere Universitätsgebäude von Darmstadt im Süden bis nach Hamburg im Norden Deutschlands.

Hintergrund der Universität
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Bildungsfrage auch in der Bundesrepublik neu diskutiert. Die Wissenschaft sollte wieder allein der Wahrheit und der Demokratie verpflichtet sein. Der Philosoph und Pädagoge Georg Picht hat 1964 in einer Artikelserie die „deutsche Bildungskatastrophe“ heraufbeschworen: Nur mehr Abiturienten und Studenten konnten die deutsche Wirtschaftsmacht sichern. Der Soziologe Ralf Dahrendorf erklärte die Erziehung sogar zum Bürgerrecht. Die Baby-Boomer drängten zunehmend auf Universitäten. Der Anteil der Studienanfänger in ihrer Altersgruppe stieg von 6,2% im Jahr 1952 auf 15,4% im Jahr 1970. Damit stattet die Bundesregierung die Hochschulen nun auch großzügiger aus. 1968 wurde schließlich gefordert, den Zugang zum Studium einzuschränken. Ein mögliches „akademisches Überangebot“ sollte verhindert werden.

Entwicklung des Fertigteilsystems
Die Räume der Universität Marburg wurden während des Krieges kaum zerstört. Erst als um 1960 die Studentenzahlen sprunghaft anstiegen, wurde die Idee von Neubauten zunehmend in Betracht gezogen. Im engen Tal der Stadt war jedoch Platzmangel. Daher beschloss das Ministerium 1961 einerseits, das Krummbogen an der Lahn zu kultivieren. Darüber hinaus lagerten die Medizin und die Naturwissenschaften – bis auf das Physik-Institut, das in der Oberstadt blieb – auf den Lahnbergen. Der Kamm nordöstlich der Stadt erhielt eine S-förmige Zufahrtsstraße. Bis 1977 sollte hier ein großer Komplex entstehen. Hierfür entwarf die lokale Hochschulbehörde ein flexibles, variabel vorgefertigtes Konzept mit Architekten wie Kurt Schneider, Helmut Spieker und Günter Niedner. Nach einer Rasterfeldgröße von 60 × 60 cm wurden Betonfertigteile entwickelt. Auf den charakteristischen vierteiligen Pendelstützen sind Tragbalken montiert. In diese Roststruktur wurden standardisierte Dehnungselemente aus Metall und Kunststoff eingelegt. Die filigranen Gebäude erhielten ebenfalls umlaufende Fluchtbalkone. Die Anlage wurde mit einzelnen massiven Konstruktionen aus Ortbeton ergänzt. In dieser Form wurde beispielsweise der Hörsaalbau der Chemie gebaut.

Umsetzung auf dem Marburger Lahnbergen
1964 wurde die Feldfabrik auf den Lahnbergen gegründet. Hier wurden die standardisierten Elemente für die lokalen Baustellen hergestellt. Bis 1966 wurden das neue Universitätsgebäude und die präklinischen Forschungseinheiten im Marburger System errichtet. Danach wurden die fertigen Teile einfach angepasst. Bis 1977 entstand das Institut für Naturwissenschaften mit dem Neuen Botanischen Garten und einer umfassenden Infrastruktur (von der Elektro- und Telefonanlage bis zum Fernheizwerk). Bewusst waren die einzelnen wissenschaftlichen Institute gleichberechtigt nebeneinander angesiedelt. Die grauen Betonstrukturen wurden durch die glatten, weiß-dunklen Finishelemente und individuelle Farbakzente belebt. Mitte der 1970er Jahre änderte sich auch auf den Lahnbergen der Geschmack und die Bedürfnisse der Nutzer. Für das neue Universitätsklinikum (Einweihung 1984) adaptierte man das Marburger System ein letztes Mal. Für spätere Gebäude wurden schließlich externe Architekten beauftragt. Mit den aktuellen Plänen für den „Campus Lahnberge“ werden derzeit die Gebäude des Marburger Systems diskutiert.

Wirkungsgeschichte und heutige Bedeutung
Das Marburger System wurde als Modell für die Lahnberge entwickelt. Nur gelegentlich wurde es anderswo angewendet, z. B. für die Tank- und Raststätte Großenmoor bei Fulda. Aber das Konzept war zu seiner Zeit vorbildlich. Es wurde oft als kosteneffektiv, flexibel und ästhetisch beschrieben. Das Marburger System prägte neue Universitätsgebäude wie die Neubauten in Darmstadt, Hamburg, Tübingen oder Dortmund. Programmatisch hatten sich die Marburger Planer 1961/63 von der Fachwerkromantik Marburgs unterschieden. Gleichzeitig verwiesen sie jedoch explizit auf ihre Skelettkonstruktion auch auf den hessischen Fachwerkbau. Andere Einflüsse finden sich wahrscheinlich in der traditionellen und modernen japanischen Architektur, z. B. bei Kenzo Tange. In Marburg selbst wurde lange Zeit der energetische Mangel der Lahnberge betont. In Fachkreisen erhielt das Marburger System jedoch als innovatives Zeugnis der Nachkriegsmoderne wieder hohe Anerkennung.

Gefährdung
Die mit dem Marburger Bausystem errichteten Universitätsgebäude in Marburg sind gefährdet. Obwohl sie als historische Denkmäler gelistet sind, plant die Universität, das größte von ihnen, das Gebäude der ehemaligen Chemieabteilung für 2020, zu zerstören. Präsident Krause sieht keine Möglichkeit zur Sanierung und anderen Nutzungen.